Die Marek-Serie: Eine Seelenreise durch unsichtbare Räume, Unvollkommenheit und Metaphysik
Im Jahr 2014 begann die Figur Marek als eine Serie von Acrylporträts, in denen die Augen bewusst fehlten. Die Augen, oft als „Fenster zur Seele“ betrachtet, waren in jedem Bild auffällig ausgelassen, was Marek eine gewisse Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit verlieh. Diese Entscheidung war kein Zufall. Ich wollte das Gefühl der Entfremdung und Leere einfangen, das ich damals in meiner Umgebung spürte. Die Menschen wirkten für mich wie leere Hüllen, getrennt von einem tieferen Kontakt zu sich selbst und anderen. Marek spiegelte diesen Zustand wider – eine Figur ohne die üblichen Lebenszeichen, in einem Zwischenraum zwischen Anwesenheit und Abwesenheit.
Aber Marek war mehr als nur ein Symbol der Verzweiflung oder Isolation. Sein Fehlen der Augen deutete auf etwas Tieferes hin: eine Suche nach Sinn, eine Reise zur inneren Heilung und eine Ahnung einer Schönheit, die jenseits des Sichtbaren liegt. Von Anfang an war Marek nie als fertige, „perfekte“ Schöpfung gedacht. Seine asymmetrischen Merkmale, die kubistische Nase und der kubistische Mund, und natürlich die leeren Augenhöhlen machten ihn zu einer Metapher für die menschliche Unvollkommenheit. Marek war ein unvollendetes Wesen, eine Figur auf einer ständigen Reise, die keinen endgültigen Abschluss findet. Auf diese Weise wurde er zu einem Sinnbild des menschlichen Zustands, geprägt von Unvollständigkeit und fortlaufender Entwicklung.
Die virtuelle Phase: Mareks digitale Reise
Im Jahr 2021, während der COVID-19-Pandemie, als die Welt sich an das Leben in Isolation anpasste, fühlte ich mich gedrängt, zu Marek zurückzukehren. Die Isolation und der Rückzug aus der Außenwelt brachten mich dazu, meine künstlerische Praxis zu überdenken und digitale Werkzeuge stärker zu nutzen. Mithilfe von 3D-Programmen begann ich, Marek in einem virtuellen Raum zu gestalten, wodurch seine Form eine neue, digitale Dimension erhielt. In dieser 3D-Umgebung entstand eine Welt der Freiheit, in der physische Grenzen nicht mehr existierten. In diesem „gottähnlichen“ Raum war alles möglich, und doch fühlte sich diese Freiheit oft paradoxerweise leer an. In der grenzenlosen digitalen Umgebung spiegelte Mareks fehlende Körperlichkeit das umfassendere Gefühl von Isolation und Distanz wider, das den Alltag durchzog.
Durch das 3D-Rendering nahm Marek eine neue Gestalt an. Verschiedene digitale Versionen entstanden unter unterschiedlichen Licht- und Perspektiveinstellungen, jede Iteration fügte eine neue Facette zu seiner Reise hinzu. Doch diese digitalen Schöpfungen waren eher wie Stationen in Mareks Leben und weniger transformative Wiedergeburten. Sie waren Etappen auf seinem Weg, aber sie fühlten sich nicht wie tiefgreifende Veränderungen an. Diese Phase verdeutlichte die Spannung zwischen analoger und digitaler Welt, aber es blieb nur eine Phase, ein temporärer Ort, an dem Marek wachsen, aber sich noch nicht vollständig verwandeln konnte.
Ein Wendepunkt: Die Einführung künstlicher Intelligenz
Erst durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) trat Marek in eine Phase der „Wiedergeburt“ ein. Die KI brachte eine ganz neue Ebene der Interpretation und Transformation in meine Arbeit mit Marek. Nicht länger auf statische Entwürfe beschränkt, ermöglichte die KI eine kontinuierliche Neugestaltung. Mareks Silhouette, seine Merkmale und sein Wesen entwickelten sich unaufhörlich weiter, jede „Wiedergeburt“ offenbarte eine neue Version von ihm, die vertraut und doch völlig neu war. Mit der KI wurde Marek zu einem Wesen, das sich der Vollendung widersetzte und in ständiger Bewegung blieb – eine Figur, die eine Reise ohne endgültiges Ziel verkörperte.
Die Arbeit mit der KI bei Marek bedeutete mehr als nur die Erzeugung von Bildern; sie führte zu einer tiefen philosophischen Reflexion über die Natur der Kreativität. Kann eine Maschine wirklich kreativ sein? Oder ist sie nur ein Werkzeug? In meiner Zusammenarbeit mit der KI ließ ich bewusst zu, dass sie „Fehler“ machte, ohne diese zu korrigieren. Ich war neugierig, wohin diese „Fehler“ führen würden und entdeckte, dass sie oft unerwartetes kreatives Potenzial aufwiesen. Es war, als ob die KI mit ihrer eigenen internen Logik begann, eine eigene Art von Kreativität zu entwickeln, die sich meiner Kontrolle entzog, aber dennoch harmonisch ergänzt wurde.
Aome: Ein bedeutendes Werk in der Serie
Ein Werk, das diese Zusammenarbeit mit der KI besonders gut symbolisiert, ist Aome. Aome ist stark von der Daguerreotypie inspiriert, einem fotografischen Prozess aus dem 19. Jahrhundert, der ein einziges, einzigartiges Bild erzeugte. Diese Methode faszinierte mich besonders in einer Zeit, in der digitale Reproduktionen Einzigartigkeit selten machen. Die Unwiederholbarkeit der Daguerreotypie – das Bild existierte nur als Unikat – schien mir ein bedeutungsvolles Gegenstück zur Reproduzierbarkeit digitaler Kunst zu sein.
In Aome ließ ich die KI die Ästhetik der Daguerreotypie nachahmen. Ich verwendete Graphit, ein Medium mit eigenen reflektierenden Eigenschaften, um dem Werk eine einzigartige, spiegelähnliche Oberfläche zu geben, die an die spiegelnden Oberflächen der Daguerreotypien erinnert. Diese Kombination aus digitaler KI und analogem Graphit schuf eine spannende Spannung zwischen dem Reproduzierbaren und dem Einzigartigen. Die KI erzeugte viele Varianten von Aome, doch am Ende gab es nur eine Version, die ich als das „wahre“ Werk betrachtete. Diese Entscheidung – welche Version ich auswählte – lag allein bei mir, doch die Rolle der KI war entscheidend für die Erschaffung von Aome.
Der kreative Dialog mit der KI
In meiner Arbeit mit der KI habe ich mich oft gefragt: Kann eine Maschine kreativ sein? Oder ist Kreativität etwas, das ausschließlich dem Menschen vorbehalten ist? Was ich herausfand, ist, dass die KI zwar nicht „kreativ“ im traditionellen Sinne ist, aber sie ermöglicht einen faszinierenden, dynamischen Dialog. Indem ich der KI erlaubte, „Fehler“ zu machen, trat ich in einen Prozess ein, bei dem Entdeckung und Evolution auf natürliche Weise stattfanden. Es fühlte sich an, als würde ich der KI die Hand reichen und sie mich in neue, bisher ungesehene Räume führen lassen.
Diese Zusammenarbeit mit der KI ähnelt den Dynamiken einer menschlichen Beziehung: Um etwas zu erschaffen, das über einen selbst hinausgeht, muss man Kontrolle abgeben und dem Partner vertrauen. Dieser Prozess, dieses Loslassen der totalen Kontrolle, hat meine Arbeit tiefgreifend beeinflusst. Es geht nicht nur darum, ein fertiges Werk zu schaffen, sondern auch darum, den Schaffensprozess selbst zu erkunden – den Raum zwischen Kontrolle und Loslassen, zwischen menschlicher Intuition und maschineller Logik.
Metaphysik in der Kunst: Der unsichtbare Raum
In meiner Kunst ist es mir wichtig zu betonen, dass ich keine religiösen oder spirituellen Räume betreten oder beeinflussen möchte. Meine Arbeit konzentriert sich auf das Metaphysische – auf das Unsichtbare, das jenseits des Greifbaren liegt. Ich glaube, dass es in der Kunst eine Ebene gibt, die nicht rational oder materiell erklärbar ist, die aber dennoch real ist. Diese Ebene ist das, was ich als „dunkle Materie“ bezeichne – der Raum der Träume, der Visionen, der Intuitionen. Es ist der Raum, in dem Kunst entsteht, bevor sie materialisiert wird.
Dieser unsichtbare Raum ist der Ort, an dem meine Arbeit an Marek beginnt. Marek ist für mich ein Symbol dieser metaphysischen Ebene – eine Brücke zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Seine unvollkommene Form, seine fortwährende Suche nach Sinn und Heilung, ist eine Reflexion unserer menschlichen Erfahrung. Mit Marek versuche ich, das Unsichtbare sichtbar zu machen, ohne es zu sehr festzulegen oder zu erklären. Kunst hat für mich die Kraft, das Unsichtbare zu berühren, ohne es zu definieren. Es geht darum, Raum für Interpretation zu lassen – sowohl für mich als Künstler als auch für den Betrachter.
Der Betrachter als Teil des Kunstwerks
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Marek-Serie ist die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und dem Betrachter. Ich glaube, dass Kunst erst durch die Interaktion mit dem Betrachter vollständig wird. Marcel Duchamp sagte einmal, dass Kunst zu 50 Prozent aus dem Künstler und zu 50 Prozent aus dem Betrachter besteht. Diese Aussage hat mich tief beeinflusst. Ich sehe den Betrachter als aktiven Teilnehmer an meiner Kunst – er ist nicht nur ein passiver Beobachter, sondern jemand, der das Werk vervollständigt.
In meiner Arbeit mit Marek wird der Betrachter zu einem „Elektron“, das um den Kern von Marek kreist. Marek selbst ist unvollständig, aber durch die Interaktion mit dem Betrachter erhält er seine Vollständigkeit. Es ist diese Spannung zwischen Unvollkommenheit und Vervollständigung, die das Herzstück meiner Arbeit bildet. Ich möchte, dass der Betrachter das Werk mit seiner eigenen Interpretation und Erfahrung füllt und es dadurch lebendig macht.
Kunst als Prozess, nicht als fertiges Produkt
In meiner künstlerischen Praxis geht es nicht nur darum, ein fertiges Werk zu schaffen, sondern auch darum, den Prozess des Schaffens zu erkunden. Kunst ist für mich kein statisches Produkt, sondern ein fortlaufender Dialog – ein Dialog zwischen dem Künstler, dem Werk, dem Betrachter und in meiner aktuellen Arbeit auch der KI. Es geht darum, Raum für Fehler, für Unvollkommenheit und für neue Entdeckungen zu lassen.
Dieser Prozess spiegelt sich in meiner Arbeit mit Marek wider. Marek ist nie fertig, er ist immer in Bewegung, immer auf der Suche. Diese ständige Veränderung und Erneuerung ist es, was Marek lebendig macht. Und es ist diese Unvollkommenheit, die ihn menschlich macht.
Text: Stefan Wimmreuter / 2024